Heute ist es genau 23 Jahre her, dass die innerdeutsche Grenze endlich fiel. Noch immer bin ich tief berührt, wenn ich an den Abend des 09.11.1989 denke. Ich war an diesem Abend bei meinen Eltern in Halle (S.) und saß mit meiner Mutter vor dem Fernseher, nichtsahnend, dass dieser Tag in die Deutsche Geschichte eingehen wird.
Im DDR-Fernsehen lief die Liveübertragung einer Pressekonferenz aus Ostberlin mit Günter Schabowski (Mitglied des Politbüros der SED). Ausländische Journalisten stellen ihre Fragen, als Schabowski unsicher einen Zettel heraus kramte und stockend las: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dabei noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.“
Und weiter: „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Westberlin erfolgen.“ Als Schabowski gefragt wird, wann das in Kraft tritt, antwortet er: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“
Ich konnte gar nicht glauben, was ich da hörte und mit eigenen Augen sah, aber doch war es wahr! Noch heute kriege ich seltsame Schauer, wenn ich an diesen letzten Satz denke. Am liebsten hätte ich mich sofort der neugierigen und reisewilligen Masse angeschlossen, wäre da nicht mein erst knapp 10 Monate alter Sohn gewesen, der nebenan friedlich schlief und mir damit meine Entscheidung vorgab, es nicht gleich an diesem Abend zu tun. :-)
Noch hatte ich die Bilder von einer großen Demonstration am Alexanderplatz im Kopf, die ich im Fernsehen verfolgt hatte, die gerade einmal fünf Tage her war und mich schwer beeindruckt hat. Vor fast einer Million Menschen traten mehr als 20 Redner vor das Mikrofon auf der als Bühne fungierenden Ladefläche eines LKW: Namhafte Regisseure, Schauspieler und Schriftsteller, aber auch Bürgerrechtler, Politiker, Professoren und Studenten, darunter Heiner Müller, Stefan Heym, Gregor Gysi, Tobias Langhoff und Jan (damals junger Schauspieler am Deutschen Theater in Berlin). Bereits damals war mein Interesse geweckt für diesen jungen Mann mit dem eingegipsten Arm, der sich mit folgenden Worten vorstellte: „Mein Name ist Liefers, ich bin Schauspieler.“ Und was für einer, wie sich inzwischen herausstellte!
Jan beschreibt in seinem Buch „Soundtrack meiner Kindheit“ den 04. November 1989 so:
„11.36 Uhr: Ich war an der Reihe. Drei Dinge wollte ich sagen. Erstens, dass wir uns gegen Versuche von Partei- und Staatsfunktionären verwahrten, sich jetzt zu Initiatoren und Führern des auf den Straßen erzwungenen Reformprozesses zu machen. Zweitens, dass der gesetzlich verankerte Führungsanspruch der SED ab sofort zur Disposition gestellt werden sollte. Drittens, dass die alten, verkrusteten Strukturen nicht erneuerbar seien und deshalb zerstört werden müssen. Während dieser Minuten vor dem bis zum Horizont reichenden Menschenmeer versuchte ich nur, einen kühlen Kopf zu behalten und langsam zu sprechen. Alles lief verzögert ab, wie in Zeitlupe. Das mehrfache Echo der eigenen Worte, der Applaus der Menschen. Mit dem Zettel in der Gipshand verließ ich die kleine Bühne. Nach mir sprach Gregor Gysi, aber ich brauchte erst mal einen Kaffee.“
In einem Gespräch mit Tobias Armbrüster schilderte Jan seine Erinnerungen an das, was nach der Rede passierte treffend so: „Als ich dann fertig war mit meiner Rede, ziemlich am Anfang, bin ich in so einen kleinen Raum gegangen hinter der Tribüne. Das war so als Aufenthalt gedacht für die Musiker und Redner. Der war leer, da war niemand. Ich habe mich da hingesetzt, wollte einen Kaffee trinken, und dann hörte ich eine Stimme so aus dem Nichts. ‚Möchten Sie auch ein Stück Pflaumenkuchen?‘ Ich dreh mich um und da stand Markus Wolf. Der war da seit einigen Jahren schon raus aus der Staatssicherheit, hatte seinen Dienst dort quittiert, wenn man seinen Dienst da überhaupt quittieren kann, keine Ahnung. Jedenfalls war er nicht mehr aktiv und schrieb schon Bücher und so was. Nun stand er da und fragte mich, ob ich ein Stück Kuchen will, und hat mir das dann auch noch gebracht… Als ich diesen Kuchen aß und meinen Kaffee da trank, habe ich eher darüber nachgedacht, was das jetzt zu bedeuten hatte, diese Begegnung, dass der da kommt und mir einen Kuchen hinstellt, und irgendwie dachte ich kurz, das muss das Ende der DDR sein.“
War es ja wohl irgendwie auch. Und ich bin verdammt froh, dass Jan mit dem Ende der DDR die Möglichkeit bekam, ein gesamtdeutscher Künstler zu werden.
Infos zur Demo am Alexanderplatz sowie Jans Rede.
30. April 2013 um 22:13
Habe den Artikel erst heute gefunden. Ganz große klasse, danke!