Matthias Dell, Theater- und Literaturwissenschaftler, ist Kulturredakteur bei der Wochenzeitung „Der Freitag“. Das vor Kurzem erschienene Buch „Herrlich inkorrekt“ befasst sich mit den Thiel-Boerne-Tatorten und liefert lt. Umschlagtext „einen kritischen Durchgang durch die bisherigen Folgen“.
Eine detaillierte Analyse der einzelnen Folgen bietet der Band nicht. 136 Seiten im Postkartenformat, das ist im Grunde ein längerer Aufsatz, der sich auf den Aspekt der „Politischen Inkorrektheit“ konzentriert. Die Analyse ist interessant und gibt Stoff zum Nachdenken.
Nach einem einleitenden Kapitel über den Tatort im Allgemeinen folgt eine Vorstellung der Hauptfiguren des Münster-Tatorts und ihrer Funktion. Der größte Teil widmet sich jedoch dem Begriff der Politischen Korrektheit und ihres Gegenstücks, der Politischen Inkorrektheit, zunächst allgemein, dann in Bezug auf den Tatort Münster, dessen Erfolg unter anderem auch auf dem als politisch inkorrekt bezeichneten Humor beruht. Die Schlüsse, die der Autor zieht, beleuchten diese oft als besonders fortschrittlich angesehene Eigenart kritisch und überführen die Grundhaltung der Reihe als im Grunde konservativ. Als Beleg dafür werden sowohl Boerne als auch Thiel angeführt, die nach Auffassung des Autors nur Kehrseiten derselben Medaille sind.
Ich muss gestehen, das verteidigende „Ja. aber…“ fällt mir tatsächlich schwer. Dells Argumente sind stichhaltig. Mein Kritikpunkt wäre, dass durch die Beschränkung auf diesen einen Aspekt etwas von der Komplexität verlorengeht, die der Münster-Tatort eben auch hat. Sowohl Anhänger als auch Gegner- wobei ich den Autor hier nicht als zu einem Lager gehörig betrachte, er schreibt angenehm sachlich – neigen dazu, nur die Passagen zu zitieren, die zu ihrer Ansicht passen, was vielleicht auch gar nicht anders möglich ist, aber der Materie eben nur teilweise gerecht wird.
Bedenkenswert fand ich die Ausführungen zu den „Zwergenwitzen“, die ich wohl künftig nicht mehr unbelastet lustig finden kann…
Ich wäre sehr gespannt auf Meinungen zum Buch.
4. Dezember 2012 um 22:00
Huhu Gabi!
Was hat denn der gute Mann über Zwergenwitze geschrieben?
Ich sage jetzt einfach mal ganz naiv: ich lache im Tatort über unkorrekte Witze, die eine fiktive Figur einer anderen fiktiven Figur um die Ohren knallt. Nichts davon ist Realität. Nichts davon wirklich geschehen. Alles ist Film.
Gleiche Person in der Serie akzeptiert diese Besonderheit seiner Kollegin ohne Vorurteil, ohne Mitleid. Akzeptiert sie hundert Prozent, so wie sie ist.
Sollte es nicht so sein? Wo ist das Problem, wenn die zwei sich dabei auf ihre spezielle Art kabbeln?
Ich werde gewiss nicht den Fehler begehen, etwas von diesen Witzen und Sprüchen auf reale Personen zu projizieren. Nicht auf Kleinwüchsige, nicht auf anderweitig besondere Menschen.
Ich habe durch meinen Beruf schon viel mit besonderen Menschen zu tun gehabt und halte mich für recht vorurteilsfrei. Jetzt würde mich interessieren, ob mir nach Lektüre dieses Buches das Lachen plötzlich im Halse stecken bleibt.
Was hat der Autor zu bemängeln, dass du diese Scherze nicht mehr amüsant finden kannst? Das würde mich wirklich interessieren.
4. Dezember 2012 um 22:11
Sehr vereinfacht gesagt: Die behauptete Gegenseitigkeit des Kabbelns ist nur scheinbar, weil Boernes Fehler alle behebbar wären, wenn er wollte, während Silkes Körpergröße ein unabänderlicher Fakt ist. Dell nennt das eine ‚künstliche Verknappung der Alternativen‘, denn die eigentliche Herausforderung wäre, Witze über Alberich zu machen, die mit der Größe eben nichts zu tun haben. Außerdem, so Dell, ist political correctness ein Totschlagargument, und durch die vermeintlich satirischen ‚unkorrekten‘ Scherze (er bringt als Beispiel die ‚Neger‘ aus Ruhe sanft) wird das konservative Weltbild noch zementiert. – Ich kann das in der Kürze nicht so schlüssig zusammenfassen. Bin auch, wie gesagt, nicht 100% damit einig.
5. Dezember 2012 um 14:04
Jesus, ich hatte überlegt, mir dieses Buch anzuschaffen, aber das ist mir zu verschwurbelt.
Auf so einen psyhologischen Kram habe ich keine Lust. ;o)
5. Dezember 2012 um 15:24
Ich werde mir das Buch dank Gabis Kritik nun wohl doch zulegen, das klingt interessant.
Was mich am TO Münster mittlerweile – mit Ausnahme der letzten Folge – ungemein aufstößt, ist, dass er begonnen hat, genau die Gelüste zu befriedigen, über die er sich in der allerersten Folge mit dem grenzdebilen Charakter „Bulle“ noch lustig gemacht hat. Leute, die darüber lachen, wenn wo „LUSTIG!“ draufsteht, oder die einen Witz erklären (und damit ruinieren). Und die am liebsten ein und denselben Witz hundert Mal erzählt bekommen wollen und dann immer wieder aufs Neue darüber lachen.
Es mag sein, dass ich jetzt etwas besserwisserisch oder überheblich daherkomme, aber so empfinde ich nunmal.
Mich haben Boernes Zwergenwitze schon nach der dritten Folge nicht mehr amüsiert, es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen und einfach NICHT MEHR lustig! Und ja, es wäre wesentlich witziger gewesen, hätte er irgendwelche andere Eigenschaften von Alberich mit Ironie bedacht als ewig nur ihre Körpergröße. Und das hat nichts mit politischer Korrektheit zu tun, sondern mit der Fähigkeit zu wirklichem Humor versus dem Wiederkäufen alter Pointen.
Was die „Neger-Diskussion“ in ‚Ruhe sanft‘ betrifft, so habe ich mir dereinst das ganze eher als eine Parodie der Parodie erklärt, was aber vermutlich nur Schönreden meinerseits war. Also nicht, dass die hier wirklich eine so hirnlose Diskussion führen, sondern die Parodie einer hirnlosen Diskussion. Denn dass alle miteinander nicht wissen wollen, wie man Neger/Schwarze nun wirklich nennt, scheint mir allzu weit hergeholt. Sowas konnte man in den 80er Jahren noch real diskutieren, heute ist es so lächerlich, als würde man betont lustige Diskussionen darüber führen, dass Frauen arbeiten gehen, statt den Haushalt zu führen. Das geht grad mal bei älteren Herrschaften durch, nicht bei 40-somethings.
Ich würde mir schon wünschen, dass die politische Inkorrektheit in Münster erhalten bliebe, jedoch nicht auf solch billigem Bulle-Niveau, die sie mittlerweile erreicht hat.
5. Dezember 2012 um 15:32
Hallo Nina, kauf dir das Buch. Was du schreibst, entspricht in etwa dem, was auch Dell sagt, er geht auch auf die Figur Bulle ein. Einige Aspekte hatte ich so noch nicht bedacht, aber er hat nicht unrecht.
5. Dezember 2012 um 15:28
P.S. Aus irgendeinem Grund hat mich das Blog hier nicht erkannt und mich mit diesem psychedelischen Mondrian-Avatar ausgestattet. Und es heißt natürlich „… auf so billigem Bulle-Niveau, DAS sie mittlerweile erreicht hat.“ Sigh.
5. Dezember 2012 um 20:17
Ich bekomme es wahrscheinlich zu Weihnachten :)
16. März 2013 um 10:42
Mit etwas Verzögerung hab auch ich das Buch bekommen und auf einer mehrstündigen Zugfahrt nach München in einem Rutsch durchgelesen. Ich muss zugeben, mir hat das Buch teilweise gefallen, und teilweise nicht. Was mir zum Beispiel sehr gefallen hat, war das erste Kapitel „Was der Tatort ist“, weil es eigentlich sehr schön die verschiedenen Facetten der Reihe insgesamt hervorhebt, deren einzig gemeinsamer Nenner der Sendeplatz und der nie veränderte Vorspann ist und dass letzteres ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist, wohingegen der Polizeiruf nach und nach unter geht, obwohl er im Grunde nach dem gleichen Prinzip verläuft.
Die dann folgende Diskussion darüber was „politisch korrekt“ bzw. „politisch inkorrekt“ überhaupt ist und inwieweit man es auf den Tatort anwenden kann ist allerdings sehr kompliziert geschrieben und verlangt sehr viel Konzentration beim Lesen. In einigen Punkten hat Dell durchaus recht und ich habe das ein oder andere aus einem neuen Blickwinkel gesehen. Dazu gehören natürlich auch die immer wieder aufgegriffenen Zwergenwitze, die manchmal wie das Aufkochen einer alten Suppe wirken. Ebenfalls interessant fand ich die Interpretation des FC St. Pauli Fan Thiel als komplexes politisches Stilmittel oder die inkriminierenden Absichten der Neger/Schwarze-Diskussion.
Am Ende wirkte dieser Aufsatz – der Seitenumfang lässt die Bezeichnung „Buch“ etwas übertrieben wirken – auf mich aber wie eine krampfhafte Analyse von Details in einem wissenschaftlichen Licht. Und dieses Licht kam manchmal aus einer Richtung, mit der ich nicht einverstanden war, weil ich die Charaktere und ihre Beziehung zueinander anders sehe.
Dies gilt insbesondere für das Kapitel „Alberich“. Dell stellt die kleinwüchsige Rechtsmedizinerin nur als das arme Opfer diskriminierender Sprüche hin ohne dabei die nichtausgesprochene Beziehung zwischen Boerne und Alberich zu hinterfragen, nämlich die Tatsache, dass Alberich ihren Chef an Charaktergröße eigentlich überragt und dass dessen Witze oft nur ein hilfloses Mittel sind, gegen diesen Umstand anzukämpfen. Von Unterdrückung habe ich in den ganzen Folgen bisher noch nie etwas gemerkt. Und dass Alberich in „Der Frauenflüsterer“ nur „als Agentin des finster dreinblickenden (und sehr großen) Kochs“ agiert finde ich schlicht und ergreifend falsch. Sie braucht keinen Witz zu machen, sie zeigt ihre Dominanz gegenüber ihrem Chef sogar sehr ausdrucksstark.
Ich könnte noch lange die ein oder anderen Stellen aufgreifen. Insgesamt kann ich aber sagen, dass der Text durchaus lesenswert ist, aber sicher nicht, um sich seicht unterhalten zu lassen, sondern man muss die nötige Bereitschaft mitbringen die Punkte aus dem eigenen Standpunkt heraus kritisch zu betrachten.