Wir schreiben das Jahr 1750. Ein Radio gibt es nicht; auch kein Fernsehen und erst Recht nicht Facebook, Twitter und Co. Was die meisten Menschen von der Welt wissen, kennen sie aus Büchern – sofern sie des Lesens kundig sind – aber noch viel mehr aus Erzählungen; Erzählungen von Leuten, die etwas gesehen haben von der Welt; fremde Länder, waghalsige Abenteuer, exotische Völker.
Die Menschen sind fasziniert. Viele von ihnen sind nie über die Grenzen ihres kleinen Dorfes hinausgekommen und werden es wohl auch nie tun. In ihrer Vorstellungswelt gibt es prächtige Königreiche, bezaubernde Prinzessinnen und waghalsige Helden. Die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen.
Alles Quatsch, sagen jetzt sicher viele. Die Leute sind doch aufgeklärt. Sie wissen, was wahr ist und was nicht. Die Frage ist nur: wollen wir das immer wissen?
Gerade zur Weihnachtszeit besinnen sich viele wieder auf alte Traditionen und Erinnerungen an Kindheitstage, als alles noch viel einfacher gewesen zu sein schien. Damals fragten wir uns nicht, warum das Lebkuchenhaus nicht irgendwann vergammelt, wie ein Wolf überhaupt sprechen kann oder wo Rapunzel bloß das Shampoo für all ihr Haar herbekommt.
Das Fantastische wird zur Realität, wenn es etwas gibt, das unsere Vorstellungskraft weckt; vielleicht jemand der eine völlig utopische Geschichte in einer Weise erzählt, dass wir alle Fragen nach einem realen Kern vergessen.
Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen war so ein Geschichtenerzähler. Geboren wurde der Landadlige 1720 auf dem Familiengut bei Bodenwerder als eines von acht Kindern des Oberstleutnants Georg Otto von Münchhausen. Bereits mit 13 Jahren ging er an den Hof des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und wurde später dessen Page. Ein Ereignis, das sein künftiges Leben noch beeinflussen sollte, denn der Herzog würde später Anna Leopoldowna heiraten, die dem russischen Zarenhaus angehörte.
1737 folgte Münchhausen seinem Herrn nach St. Petersburg und kämpfte für ihn im Russisch-Österreichischen Türkenkrieg. Aus dieser Zeit stammt mit größter Wahrscheinlichkeit die wohl berühmteste Geschichte des Baron Münchhausen: der Ritt auf der Kanonenkugel.
Bis zum Jahre 1750 erlebte Münchhausen viele Gefechte im Militär und brachte es dort bis zum Rittmeister. Seine eigentliche Berühmtheit erlangte er jedoch erst, nachdem er sich wieder auf das Familiengut nach Bodenwerder zurückzog und dort für Freunde und anreisende Gäste seine Anekdoten aus den bewegten Jahren im Krieg zum Besten gab. Er war ein Erzähltalent, schilderte seine fantastischen Erlebnisse mit einer derartigen Überzeugungskraft, dass immer mehr Menschen anreisten, um ihm zuzuhören. Des Öfteren gab er seine Geschichten daher auch in einem Gartenpavillon zum Besten.
Einer seiner begeisterten Zuhörer war der Kasseler Museumsdirektor Rudolf Erich Raspe. Nachdem er wegen Schulden nach England hatte fliehen müssen, war er einer der ersten, der Münchhausens Erzählungen niederschrieb und veröffentlichte. Es sollte der Beginn einer langen Rezeptionsgeschichte werden, die bis heute andauert. Ein Höhepunkt war ganz sicher 1943 die Verfilmung der Geschichten mit Hans Albers in der Hauptrolle.
Münchhausens Leben endete leider nicht so fantastisch wie seine Abenteuergeschichten. Nachdem seine erste Frau Jacobine von Dunten 1790 gestorben war, heiratete er einige Zeit später die gerade mal 20jährige Bernhardine Brunsig von Brunn. Die Ehe hielt nicht lange, denn Bernhardine war notorisch untreu. Der langwierige Scheidungsprozess kostete Münchhausen praktisch sein gesamtes Vermögen und so starb er arm und vereinsamt im Jahre 1795 auf seinem Gut Bodenwerder.
So viel zum historischen Münchhausen. Kehren wir also zurück in das Jahr 2012.
Es ist Weihnachten. Im Radio werden alle bekannten Weihnachtshits rauf und runter gespielt, die Menschen hetzen zuerst von Laden zu Laden, um noch schnell ein Geschenk zu besorgen, und später von einem Weihnachtsessen zum nächsten, so dass alle nur hoffen, dass das besinnliche Weihnachtsfest, das so gar nicht besinnlich, sondern nur hektisch gewesen war, bald vorbei ist.
Wozu diese Zeitreise? Nun, vielleicht, damit wir in all der Aufregung mal einen Gang zurückschalten, um das Übliche mit anderen Augen zu sehen. Die neue Münchhausen-Verfilmung ist kein „Harry Potter“ mit gewaltigen Spezialeffekten; sie ist kein „Herr der Ringe“-Epos mit pompösen Schlachtszenen; sie ist auch kein „Fluch der Karibik“, selbst wenn der Vergleich von Jan Josef Liefers als Münchhausen mit Johnny Depps Jack Sparrow immer wieder in allen Kritiken aufgegriffen wird. Der Film möchte nicht unsere unersättliche Konsumgier nach immer noch erfolgreicheren Blockbustern befriedigen, sondern uns vielmehr zurückversetzen in die Fantasiewelt, in der wir als Kinder gelebt haben und wo Physik vollkommen zweitrangig war. Er möchte beweisen, dass in jedem von uns noch irgendwo dieses Kind steckt und dass wir es nicht vollkommen vergessen dürfen.
Wer den neuen Münchhausen mit den nüchternen Augen eines Erwachsenen betrachtet hat, der war vermutlich enttäuscht. Keine verworrenen Intrigen, kein dramatischer Kampf auf Leben und Tod, keine heißen Bettszenen. Vielleicht wäre es ratsamer nochmal die Borgia-DVD rauszusuchen oder Ken Follett zu lesen.
Bleiben also noch diejenigen übrig, die bereit sind, sich auf eine fantastische Reise einzulassen; die Kinderaugen; oder die Augen derer, die ihre Fantasie noch nicht verloren haben. Dann wird man immer wieder von den absurden Geschichten überrascht und kann darüber herzhaft lachen. Ein Ritt auf der Kanonenkugel, wer würde das nicht gern mal versuchen? Eine Reise zum Mond und die Erde aufgehen sehen, wieso nicht?
Märchen faszinieren uns noch heute, weil sie einen zeitlosen Kern haben und den hat Münchhausen zweifellos auch. Der Baron ist ein Draufgänger; jemand, der nie aufgibt und immer einen Ausweg parat hat, weil ihm Ideen kommen, die andere schon von vornherein als sinnlos abtun. Die Rahmengeschichte und die Inszenierung können sich wandeln. Kein Kind würde sich heute noch vor den Fernseher setzen, wenn eine Märchen-Verfilmung aus den 40ern im Programm läuft. Hans Albers mag für die einen Kult sein, aber seit den vergangenen Generationen hat sich doch einiges an Staub auf diesem Film abgesetzt.
Der neue Münchhausen passt mühelos in unsere heutige Zeit. Er ist ein Frauenheld, immer knapp bei Kasse, aber irgendwie schlägt er sich trotzdem durch. Und dann taucht plötzlich ein Kind auf, wo er doch eigentlich so ein freies Singleleben geführt hat! Was nun? Eine Patchwork-Familie bahnt sich an.
Und da haben dann auch die Erwachsenen wieder was, über das sie nachdenken können; die berühmte „Moral von der Geschicht“.
Die Presse ist sich uneins. Soll man ihn denn nun loben, den „Kostümfilm“ (Stuttgarter Zeitung) mit den „schwelgerisch aufgemachte Schauplätzen“ (Quotenmeter)? Hebt man die „Glanzlichter in der üppig funkelnden Besetzungsliste“ (FOCUS online) hervor oder betont man die „Spielfreude“ und den „Enthusiasmus“ (Stuttgarter Zeitung) der Darsteller? Vielleicht erwähnt man besser den „Familiensinn“ (Frankfurter Rundschau) oder spricht von „Wärme und Kusslippenzartheit“ (FAZ).
Es scheinen also einige den Sinn der Botschaft tatsächlich verstanden zu haben.
Andere wiederum sind unzufrieden. „Das ist total langweilig“, sagt Ernst von Münchhausen, ein Nachfahre des Lügenbarons, und schimpft die Filmfigur einen Clown (Die Welt). Man kann es ihm nachsehen, denn er sieht all das vermutlich aus einer anderen Perspektive.
Etwas mehr von dieser Perspektive wünscht man sich hingegen für all jene, die wie ein Grinch im Porzellanladen alles kaputt machen, was ein wenig Fantasie erzeugen kann. Die nur Pappkulissen, statt Traumwelten sehen, billige Nachahmerei statt Eigeninterpretation (Spiegel online). Die Botschaft ist hier ganz offensichtlich nicht angekommen. Wohl aber die moderne Welt, in der ein Kleinkind schneller eine App beherrscht als das erste Wort und wo die Kinder offenbar so von Effekten und Kampfszenen übersättigt sind, dass sie bei ein wenig Vorstellungskraft nur müde einschlafen.
Mögen doch die Herrschaften lieber in ihrer Social-Network-Welt bleiben und die Kritik all jenen überlassen, die noch ein bißchen träumen können!
26. Dezember 2012 um 22:33
Sehr schön geschrieben Jolli.
Kann dir nur zustimmen.
27. Dezember 2012 um 18:40
Danke :)
27. Dezember 2012 um 18:13
Das ist ein schöner Artikel. Der Aspekt Faszination Münchhausen – früher und heute – ist klasse heraus gearbeitet und auch Leser, welche die historische Geschichte um den Lügenbaron noch nicht so genau kannten, bekommen hier eine schöne Zusammenfassung. Jolli good!
27. Dezember 2012 um 18:40
Vielen Dank! Ich dachte, es wäre eine schöne Ergänzung, wenn man noch etwas zum historischen Münchhausen einbaut ;-)