Ein Gastbeitrag von Anne. Vielen Dank dafür!
Prolog
Seit ich begonnen hatte das Buch „Soundtrack meiner Kindheit“ zu lesen, wurde ich von Verwandten und Freunden immer und immer wieder gefragt: „Warum interessiert dich denn dieses Buch? Du bist doch gar nicht mehr zu DDR–Zeiten geboren. Das sagt dir doch heute gar nichts mehr!“
Der zweite Satz ist wohl unumstritten, denn ich wurde 1991 in Leipzig geboren. Der Dritte hingegen stimmt so nicht. Ich mag kein Zeitzeuge sein und ich bilde mir auch nicht ein, ich könnte anderen die DDR erklären, doch ich gehe nicht mit einem Tunnelblick durchs Leben und interessiere mich für die Vergangenheit meiner Eltern und Großeltern. Ich möchte wissen, wie sie groß geworden sind und was sie bewegt hat. Ich frage mich auch, warum dieses Thema in meinem Geschichtsunterricht zu großen Teilen ausgespart wurde.
Noch heute werde ich mit Vorurteilen konfrontiert, deren Fundament sich auf jener Zeit begründet. Es scheint so, als wäre bei manchen die Mauer in den Köpfen noch nicht gefallen – auch die Engstirnigkeit, in diesem Buch nur eine bloße Zustandsbeschreibung von Verhältnissen zur Zeit der DDR zu sehen, ärgerte mich. Natürlich fließt das mit ein und ich scheue mich nicht, diese Dinge zu hinterfragen, doch im Kern erzählt Jan Josef Liefers doch auch von Dingen, die sich in der Erfahrungswelt so vieler Menschen wiederfinden – von der Familie, den Freunden, seiner Jugend, der Liebe zur Musik, seinen Träumen und seinem beruflichen Werdegang. Warum sollte ich das nicht verstehen können?
Ein Film im Buch
„Als ich 40 wurde schenkte mir mein Vater eine Filmrolle.[…]Die Rolle enthielt Fragmente eines Schmalfilms, den er während meiner Kindheit gedreht hatte.[…] Jetzt an meinem 40. Geburtstag und anderthalb Jahre vor seinem Tod gab er mir diesen Film. Seinen – unseren Film.
Hier zeigt sich bereits die erste Besonderheit, denn Ausschnitte dieses Stummfilms, den sein Vater auf seiner russischen Zenit Quarz 8 Kamera (zuerst in schwarz/weiß und später in Farbe) drehte, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch.
Durch liebevolle und detailreiche Beschreibungen jener Filmabschnitte zaubert Jan Josef Liefers die bewegten Bilder direkt in die Köpfe der Leser. Er erzählt zu Beginn, wie der Film durch seine Erinnerung zu klingen beginnt wie ein Soundtrack – der Soundtrack seiner Kindheit. Auch ich habe dieses Gefühl, wenn ich mir alte Fotoalben ansehe und noch ehe ich es merke, beginnt auch mein Kindheitssoundtrack zu klingen und die Bilder setzen sich wie Puzzleteile vor meinem inneren Auge zusammen.
Aus dem Herzen gesprochen
Wenn Jan Josef Liefers von seiner Familie erzählt, von lustigen Anekdoten aus seiner Kindheit berichtet oder auch einmal ernstere Themen aufgreift, erinnert er mich an meinen Opa. Beide besitzen diese Begabung, ihre Zuhörer mit einer großen Spannung an ihre Geschichten zu fesseln. Er legt dem Leser seine Welt auf so sympathische Weise offen, dass sich eine angenehme Vertrautheit aufbaut. Jan Josef Liefers erzählt so frei und unbeschwert, man könnte meinen, er sitzt einem direkt gegenüber.
Er ist humorvoll und witzig, aber niemals gewöhnlich, manchmal ironisch, doch immer im passenden Moment und ehrlich, ohne abgehoben zu wirken. Auch ernsten Themen nähert er sich behutsam, ohne Übertreibung und mit dem nötigen Feingefühl.
Oft muss ich schmunzeln und manchmal laut lachen, im nächsten Moment bin ich nachdenklich und traurig, denn man erkennt, dass neben Verstand und Weisheit vor allem die Herzlichkeit des Autors im Buch federführend ist.
„Ja, das ist für die Lieblingslieder, die alles können und immer gewinnen“ [1]
Das spannende am Buchtitel ist, dass er auf zwei Ebenen funktioniert. Zum einen geht es um den Film seines Vaters, der durch seine Erinnerung zu klingen beginnt und zum anderen um Liefers Begeisterung für Musik, die im Buch einen großen Stellenwert einnimmt.
„Am liebsten wäre ich Musiker geworden. Gitarrist in einer Band.[…]“
Es werden verschiedene Bands und Lieder vorgestellt, die er mit persönlichen Erinnerungen verknüpft. Sie markieren Wendepunkte in seinem Leben, beschreiben ein bestimmtes Lebensgefühl und sind für ihn oft wie ein Fels in der Brandung.
„Jemand sagte mal: Man dürfe von Musik nicht erwarten, dass sie die Welt verbessert. Es genüge schon, wenn sie einem ab und zu das Leben rettet.“
Dieser Aspekt des Buches gefällt mir am allerbesten, beschreibt er doch so wunderbar, wie stark Musik mit Erinnerungen verknüpft ist, welche Kraft und Energie sie uns schenkt und wie gut sie Gefühle und Träume beschreibt.
Viele der genannten Bands, wie die Puhdys, Silly oder Lift kenne ich durch meine Eltern und ihre Schallplattensammlung. Ganz besonders Silly beeindruckte mich schon immer mit ihren metapherlastigen Texten, die sie schrieben, um der Zensur durch die DDR zu entgehen und trotzdem ihre Botschaft zu vermitteln. Aus einer Notwendigkeit wurde mehr und mehr ein Stilmittel und eine Kunstform, die sich auch viele andere Bands in der DDR zu Nutze machten.
„Mit diesen Zeilen will ich danken, den besten Menschen dieser Welt“ [2]
Ein Thema, das Jan Josef Liefers im Buch immer wieder aufgreift, ist seine Familie. Sie ist der Mittelpunkt so vieler bewegender Erzählungen. Die vielen liebevollen und detailreichen Charakterzeichnungen seiner Eltern, Großeltern und seiner Uroma zeigen wie stark er sich ihnen verbunden fühlt. Der enge Familienzusammenhalt und die Wohnsituation der einzelnen Familienmitglieder, sind der meiner Familie zu großen Teilen sehr ähnlich. Besonders das Verhältnis zu seiner Oma Hilde, die in seiner Kindheit immer sehr präsent war, erinnert mich an das Verhältnis zu meiner eigenen Oma. Wenn er von ihrem legendären Heringssalat und den drei riesigen Stollen zu Weihnachten erzählt, beschreibt, wie er aus ihren Wohnzimmermöbeln Hochseedampfer baute oder wie sie ihm beibrachte, Topflappen zu häkeln, dann muss ich sehr schmunzeln, denn all das hätte auch direkt aus meinem Mund kommen können. Ebenso der Satz „Alles, was ich an Blödsinn anstellte stieß auf ihr Verständnis!“.
Jan Josef Liefers (in Bezug auf seine Oma Hilde): „Ich habe keinen wärmeren, liebevolleren, gütigeren Menschen getroffen.“
Es sind vor allem die Frauen der Familie, die ihm immer das sichere Gefühl gaben willkommen und geliebt zu sein.
„Manchmal denke ich, dass ich alles was mir an Gutem und Wichtigem in meinem bisherigen Leben widerfahren ist Frauen zu verdanken habe. […] motiviert, bestätigt, ermutigt und geliebt gefühlt, habe ich mich immer eher von Frauen. Sie haben mich aufgefangen, wenn ich umkippte und mich wieder auf die Beine gestellt, so lange bis ich das selbst konnte.“
„Nie! Niemals werde ich Schauspieler!“
Das war seine Antwort wenn mal wieder jemand meinte, dass er, schon allein wegen seiner Eltern, bestimmt auch mal Schauspieler werden würde. Es ärgerte ihn, dass die Leute dachten, ihm bliebe gar nichts anderes übrig und bei ihm sei in der Hinsicht sowieso alles zu spät.
Dabei waren die Einflüsse der Theaterwelt nicht von der Hand zu weisen und schon im Kindergarten stahl er sich oft davon, um in das Theater zu gehen, in dem seine Eltern arbeiteten. Im Gegensatz zum Kindergarten fühlte er sich dort wohl – das war seine Welt. Die Leute im Theater waren freundlich und empfingen ihn und seine Spinnereien mit offenen Armen.
„Sie gaben mir das Gefühl einer von ihnen zu sein. Es war wie in einem Familienzirkus. Manchmal trat ich einfach in der laufenden Vorstellung auf. Jemand zog mir ein Froschkostüm an und nahm mich mit auf die Bühne. Hauptsache ich hatte Spaß und war beschäftigt.“
Auch der Film hatte es ihm angetan. Er verbrachte viel Zeit in Dresdens Rundkino und sah Filme wie: Einer flog über das Kuckucksnest (10mal!), der elektrische Reiter oder auch viele sowjetische Filme, die im Westen kaum bekannt sind, was er schade findet.
Ein Film beeindruckte ihn dabei besonders:
„Nach dem Film Leuchte, mein Stern, leuchte von Alexandr Mitta beschloss ich im Dunkel des Zuschauerraums Schauspieler zu werden.“
Doch der Weg zum Schauspieler war nicht so leicht, denn das Abitur wurde ihm, als Kind von Künstlern, die zur Schicht der Intelligenz zählten, zunächst verwehrt. Die DDR als Arbeiter- und Bauernstaat bevorzugte „ihre“ Arbeiter- und Bauernkinder. Ein Ehrendienst bei der NVA (Nationale Volksarmee) hätte dies ändern können, doch daran hatte Liefers kein Interesse.
„Was ich wollte, ließ sich mit ein paar Worten zusammenfassen: Einigermaßen glücklich werden ohne mich allzu sehr verbiegen zu müssen. Besonders biegsam war ich nicht.[…]
Er verriet seine Ideale nicht und verlor auch sein Ziel nicht aus den Augen. So machte er zunächst eine Tischlerlehre in Dresdens Semperoper und nahm danach das Studium an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin auf. Die Schauspielerei war „seine Nische, seine Insel, sein Schleichweg durch die Niederungen des real existierenden Sozialismus“ der deutschen demokratischen Republik.
„Die Zeit ist aus den Fugen“ [3]
Jan Josef Liefers wurde 1964 in Dresden geboren und wuchs in der DDR auf. Doch spielt sich dieser Aspekt im Buch niemals aufdringlich in den Vordergrund, noch wird er außer Acht gelassen.
Einige Namen, Geschichten und Beschreibungen kenne ich von meinen Eltern und Großeltern, andere sind mir neu – dann frage ich nach: „War das so? Erzähl mal!“ Es erstaunt mich, dass ich in den meisten Fällen hörte: „Ja! Genau so war das.“ Meistens folgte diesem Satz dann eine eigene ausschweifende Geschichte aus der Kinder- und Jugendzeit. Ich finde das schön, denn auf diesem Weg erfahre ich auch noch mehr über die Kindheit meiner eigenen Familie.
Liefers erzählt in seinem Buch manchmal mit Witz und Charme, dann wieder mit ernstem Unterton von den kleinen und großen Tücken und Hindernissen in der DDR. Er bringt hier persönliche Beispiele ein, verfällt jedoch nie in eine Opferrolle und betont oft, dass er eine wohlbehütete und glückliche Kindheit hatte.
Er sagt, dass es möglich war, nicht in die Partei (SED) einzutreten – man durfte nicht auf Schonung hoffen und hatte im Gegenzug mit Hindernissen zu kämpfen, aber es war möglich „Nein!“ zu sagen. Auch scheut er sich nicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu thematisieren.
„Eigentlich gab es die DDR dreimal. Eine in der man jeden Tag lebte, die zweite, die in der Zeitung stand und die dritte, die so war wie man es sich gewünscht hätte. Es gab auch zwei Wahrheiten: Eine für zu Hause, die Familie und Freunde und eine für draußen für die Schule, die Arbeit, die Partei und die Stasi. Das war dann nur die halbe Wahrheit – eine Wahrheit light.“
Doch er wollte das System der DDR friedlich und ohne Gewalt verändern. Das zeigt auch seine Rede, die er am 4. November 1989, nur 5 Tage vor dem Mauerfall, im Rahmen der Alexanderplatz-Demonstration, hielt. Diese Demonstration und die abschließende Kundgebung gelten als Meilenstein der friedlichen Revolution in der DDR.
Sehr spannend finde ich aber auch die kleinen Schilderungen, die mit der DDR in Zusammenhang stehen, jedoch nicht gleich einen bitteren Beigeschmack erzeugen. Dazu zählen auch Geschichten, die heute nur noch schwer vorstellbar sind. Ein Beispiel hierfür sind ellenlange Schlangen vor den Plattenläden. Dort stellte man sich an, ohne zu wissen welche Musik einen erwarten würde, denn es war ein sicheres Zeichen für die Veröffentlichung einer Lizenzplatte, die wegen ihrer meist niedrigen Auflage schnell vergriffen war.
Manchmal sind es sogar Dinge, die bis in die heutige Zeit reichen, wie die Beschreibung des riesigen Wohnblocks, in dem er früher mit seiner Mutter lebte. Diese Wohnblöcke wurden zu DDR-Zeiten zu Hauf gebaut und zieren noch heute das Stadtbild vieler ostdeutscher Städte.
Epilog
Ich mag dieses Buch sehr. Ich habe oft geschmunzelt und gelacht, mich an meine eigene Kindheit erinnert und auch ein Stück mehr über die Kindheit meiner Eltern erfahren. Das Buch erzählt von Liebe, Verlusten, Musik, Chancen und Träumen, mit einer Herzenswärme und Tiefgründigkeit, die beeindruckt.
[1] Zitat: Matthias Nürnberger (Song: Das ist für die Lieblingslieder)
[2] Zitat: Matthias Nürnberger (Song: Von Holzschwertern)
[3] Zitat: William Shakespeare (deutsche Übersetzung: A.W. Schlegel) (Werk: Hamlet)
6. April 2013 um 14:07
Hallo Leute,
Den Epilog hätte ich nicht besser formulieren können.
Ich bin absolut der selben Meinung.
Das Buch lässt sich echt gut lesen und schmunzeln muss man auch ab und zu.
Ich bin zum Beispiel im Jahre 1989 vor den Fall der Mauer geboren.
Liebe Grüße, Cindy
15. August 2013 um 10:47
Lieber Professor Börne,
auf Seite 96 Ihres Buches sind Sie als Teenager mit Vaddern in Weimar auf dem Markt vor dem Rathaus und nicht in Erfurt zu sehen. Soviel sei in nicht oberlehrerhafter Manier dem Lektorat des Rowohlt- Verlages für eine hoffentlich 2. Auflage des Buches gesagt. Das Buch in seiner 1. Auflage vom Oktober 2009 liest z.Zt. meine Frau, nachdem es die Schwägerin aus Leulitz bei Leipzig bereits gelesen hat.
Es bleibt zu hoffen, dass ich Sie als umtriebigen und vielseitig interessierten jungen Menschen nicht auch noch in meiner Weimarer Studentenzeit von 1972 bis 1976 an der HAB (Hochschule für Architektur und Bauwesen) als Gast im Studentenklub Kasseturm begrüßen oder gar bewirten durfte, denn das wäre nach dem Jugendschutzgesetz der DDR auch damals nicht statthaft, aber inzwischen, wie wir alle wissen, verjährt.
Lieber Jan Josef Liefers, die Anrede mit Prof. Börne soll keineswegs Ihren Anspruch und meine Hochachtung für Ihr künstlerisches Schaffen auf die hochgeschätzte und viel verehrte Person aus der Krimiserie aus Münster reduzieren, sondern dem wissenschaftlichen und künstlerischen Anspruch der dargestellten Person entsprechen, die es sich nicht verzeihen könnte, selbst in falschem stadträumlichen Kontext fotografisch dargestellt zu sein. Sie verkörpern in der Serie mit Ihrem sächsischen Charme einen Typ Menschen in einem akademisch geprägten Stadtumfeld, der mit seinen Ansichten und Vorstellungen vom Leben bei den politischen Vertretern der z.Zt. oft diskutierten professoralen Alternative für Deutschland viel geistigen und intellektuellen Zuspruch finden könnte.
Ihr Anspruch auf eine künstlerische und, ob man es will oder nicht, auch (kultur-) politische Karriere, den Sie 1989 mit Ihrem Bekenntnis für Demokratie und Freiheit auf dem Berliner Alexanderplatz eindrucksvoll formuliert hatten, geht hoffentlich über den Anspruch eines von Ihnen dargestellten Gerichtsmediziners aus Münster hinaus.
Seien Sie gewiss, meine Frau und ich werden Sie und Anna Loos nicht aus den Augen und Ohren lassen. Wir schätzen Ihre Gabe, uns den Deutschen in allen seinen Facetten darzustellen. Bleiben Sie stets der Menschenfreund, der das Leben liebt und achtet.
Ihr Piero le Achim aus der Wüste Verclas (verlassener Ort)