(Originaltitel: In the Country of Last Things)
„Dies sind die letzten Dinge… Eins nach dem anderen verschwinden sie und kommen nie zurück. Ich kann dir erzählen von denen, die ich gesehen habe, von denen, die es nicht mehr gibt, doch wird kaum Zeit dafür sein.“
Im Land der letzten Dinge, Paul Auster
(Epigraph in Soundtrack meiner Kindheit, Jan Josef Liefers)
Meine folgenden Ausführungen haben eigentlich wenig mit Jan Josef Liefers zu tun – aber irgendwie doch schon. Bin ich doch durch die Lektüre seines Buches Soundtrack meiner Kindheit neugierig auf den Roman von Paul Auster geworden. Zuerst dachte ich: „Ok, wieder so ein Endzeit-Roman“, wie ich schon viele zu lesen verdrängt habe, weil mich grausame Zukunftsvisionen immer eher abschrecken.
Schließlich habe ich mich doch dazu entschlossen, einen Blick reinzuwerfen, denn 199 Seiten kamen mir machbar vor. (Anmerkung an Jan: Mein Exemplar ist auch antiquarisch, total hässlich, vergilbt und als deutsche Erstauflage längst in die Jahre gekommen, aber ich habe es käuflich erworben. Internet sei Dank! Gut, die Sache mit dem Kleingeld für ä Schälchen Heeßen ist heute für uns ohne Alu-Chips auch eine andere. ;-) Der unbekannte Buchhändler hat das Buch sicher nicht einmal vermisst.)
Aber lasst mich nun ein paar Worte zum Inhalt des Romans verlieren:
Anna Blume, eine junge Frau jüdischer Herkunft, gelangt auf der Suche nach ihrem verschollenen Bruder William, der als Journalist arbeitet, in eine im Roman nicht genauer bezeichnete, aber dem Untergang geweihte Großstadt. Sie schreibt ihre Erlebnisse in Form eines Briefes an einen Freund auf. Ihre Aufzeichnungen beschreiben ein Szenario voller Grausamkeiten, den Überlebenskampf der Bewohner, die Gefahren bei der täglichen Beschaffung der Lebensnotwendigkeiten. Man fühlt sich fast in die Zeit des Mittelalters zurückversetzt, wo das Recht des Stärkeren herrscht, Menschen auf offener Straße Raub, Mord, Seuchen und Angst ausgesetzt sind. Die medizinische Versorgung ist vollständig zusammengebrochen, Arbeit gibt es keine und eine funktionierende Regierung existiert nicht mehr.
Einzige Aufgabe der übermächtigen Polizei ist es, die Menschen zu demütigen und an der Flucht aus der Stadt zu hindern, die jedoch kaum mehr möglich ist, da inzwischen keine festen Straßen mehr vorhanden sind, private Pkw fast völlig verschwunden sind, der Hafen zerstört ist und Flughäfen nicht mehr existieren. Überall herrscht Verfall und Zerstörung. Die Menschheit stumpft in ihrer Not völlig ab. Viele resignieren und schließen sich einer der vielen wie Pilze aus dem Boden schießenden Sekten an, um möglichst schnell und effektiv einen Weg in den Tod zu finden.
Einzige Möglichkeiten, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sind das Plündern und die Suche nach Verwertbarem, um es an einen Aufkäufer zu veräußern. Neue Waren gibt es nicht mehr, alles wird irgendwie wieder zu Brauchbarem verarbeitet. Leichen liegen nicht lange auf der Straße, denn zur Energiegewinnung müssen sie per Gesetz der Verbrennung zugeführt werden. Bestattungen sind unter Strafe verboten. Auch die obdachlose Anna ist gezwungen, sich mit der Suche nach Verwertbarem ihren Lebensunterhalt zusammen zu sammeln.
Auf einem ihrer Streifzüge durch die Stadt rettet sie einer älteren Frau das Leben. Aus Dankbarkeit nimmt Isabel sie mit in ihre enge Behausung. Anna lernt bei ihr viele wichtige Dinge, die ihr das Überleben sichern. Als aber die schwerkranke Isabel stirbt, wird Anna durch ein Überfallkommando aus der Wohnung vertrieben und steht wieder auf der Straße.
Auf der Flucht vor der Polizei gerät sie in die baufällige Nationalbibliothek, in der sie dann endlich zufällig auf den Nachfolger ihres Bruders, Samuel Farr, trifft. Aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft zwischen Anna und Sam entwickelt sich tiefe Liebe, die jedoch bald ein jähes Ende erfährt, da die inzwischen schwangere Anna auf der Suche nach ein paar neuen Schuhen einem Betrüger aufsitzt, der sie unter einem Vorwand in ein Menschenschlachthaus lockt. In letzter Sekunde gelingt es ihr, durch einen Sprung aus dem Fenster zu fliehen. Dabei wird sie schwer verletzt und verliert das Kind.
Als sie aufwacht, befindet sie sich bei der wohlhabenden Familie Woburne, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Not der Obdachlosen wenigstens etwas zu lindern, indem sie streng nach Warteliste Menschen für ein paar Tage ein Bett und Essen gibt, um sie dann wieder auf die Straße zu setzen, damit ein anderer den Platz bekommt. Diese Hilfe schadet mehr als dass sie nützt, denn unter den hungernden und frierenden Menschen entlädt sich Missgunst und Gewalt, weil jeder einmal in den Genuss eines Aufenthalts im Woburne-Haus kommen möchte. Anna wird dort gesund gepflegt und erhält Arbeit im Haus. Da inzwischen die Nationalbibliothek abgebrannt ist, verlieren sich Sam und Anna aus den Augen…
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Ich finde den Roman sehr zweigeteilt. Bis zur Mitte des Buches gibt es kaum erkennbare Schilderungen von Emotionen. Das Leben besteht nur aus Hass, Gewalt, Not, Zerstörung, unberechenbaren Wetterumschwüngen und Tristesse. Erst als Isabel und später Sam in der Handlung auftauchen, gibt es sowas wie (Mit-)Gefühl und die Wahrnehmung von Emotionen.
Meine Meinung bleibt: Aus mir wird wohl nie wirklich ein Fan von Zukunftshorrorszenarien. Dieser Ausflug in die Sience-Fiction-Welt entsprang tatsächlich nur der Neugier. Auch wenn ich als Kind der DDR den einen oder anderen Einblick in eine Mangelwirtschaft werfen musste, in der eine „entwickelte sozialistische Gesellschaft“ mit ihrer zerstörten Bausubstanz und einer Politik „zum Wohle der Menschen“ eher Wunschtraum der Regierung als Realität war, finde ich die Handlung des Buches sehr überspitzt. Obwohl es schon stimmt, dass die DDR auch so etwas wie ein Land der letzten Dinge war – ansatzweise zumindest. Aber wer weiß schon, wie die Welt in 200 Jahren aussieht…